Suche
Close this search box.

Ein Weg zu integraler Bewusstheit

Dieser Artikel ist auch als PDF verfügbar.

In den ersten Grundlagenpapieren der Integralen Politik machte die federführende Kerngruppe darauf aufmerksam, dass es einen einfach nachzuvollziehenden Weg zum integralen Bewusstsein gibt, nämlich der, welcher mit der Anerkennung einer den Verstandesgeist transzendierenden vierten Lebensebene beginnt. Die GründerInnen der IP nannten sie die “’intuitiv-spirituelle Lebensebene“‘. Sie beriefen sich dabei nicht nur auf C.G. Jung, sondern brachten hier auch ihre eigene Erfahrung ein.

Jürg Theiler, der die analytisch-hermeneutische Psychologie begründete, weist nach, dass allen Menschen auf dem ganzen Globus vier Lebensebenen zur Verfügung stehen. Sie sind sowohl Intelligenz- als auch Bedürfnis- und Informationsebenen. Die evolutionär älteste ist die Körperebene mit dem Instinkt als Intelligenz. Sie ist mit der Aufgabe betraut, das körperliche Überleben zu sichern. Die zweite ist die Gefühlsebene mit der emotionalen oder affektiven Intelligenz. Sie ist dazu angelegt, den grösstmöglichen Nutzen aus einer Situation zu erzielen. Die dritte ist die Verstandesebene mit der rationalen Intelligenz, welche die Aufgabe hat, die anstehenden Probleme möglichst effizient zu lösen. Die vierte, die intuitiv-spirituelle, – Theiler nennt sie die empathische Intelligenz, der Volksmund Intelligenz des Herzens -, ist imstande, Einsichten zu vermitteln, die den Menschen anregen, die sinnvoll richtigen Dinge zu tun. Sie vermittelt also ganzheitliche Zusammenhänge.

Um ein gemeinsames Wording zu erreichen, halten wir die Namen der Lebensebenen und die jeweiligen Intelligenzen, deren hauptsächlichen Aufgaben und die für den Volksmund so wichtigen körperlichen Verortungen in einem Schema fest.

Die Menschwerdung

Der Mensch ist ein ausserordentlich entwickeltes Säugetier. Säugetiere unterscheiden sich unter anderem von anderen Tierarten durch ihre dreigliedrige Intelligenzstruktur: Sie verfügen über eine Körperintelligenz (Instinkt), eine emotionale Intelligenz und eine mehr oder weniger entwickelte rationale Intelligenz. Alle diese drei Informationssysteme arbeiten im Aktionsmodus, das heisst sie informieren das Lebewesen ungefragt. Sie geben Auskunft über Teilprobleme oder optimieren Teil-Wünsche oder Teil-Bedürfnisse oder wählen Teilziele aus, wobei vor allem die Ratio (rationieren, in Rationen aufteilen) das Fragmentieren als Methode des Erkennens anwendet.

Evolutionär betrachtet beginnt die Menschwerdung mit der Anerkennung der Existenz und der Entwicklung der vierten Lebensebene durch die Primaten der Säugetiere. Aus Säugetieren wurden Hominiden, aus Hominiden der «homo sapiens». Die präzise Übersetzung von homo sapiens lautet «weiser, einsichtiger Mensch». Die ihr zugrundeliegende Erkenntnisfähigkeit ist die intuitiv-spirituelle Intelligenz. Theiler verwendet normalerweise den Begriff der empathischen Intelligenz. Das Ergebnis ihres intuitiven Erkennens sind Einsichten. Sie sieht das Ganze, das Sinnvolle, die Zusammenhänge, die alles verbindende Liebe, die Schönheit und die Wahrheit.

Wir lernen: Ein Mensch ist umso mehr Mensch, je entwickelter seine intuitivspirituelle Intelligenz, also seine Erkenntnisfähigkeit für Ganzheit, für Liebe, Schönheit und Wahrheit ist.

Menschen sind also Säugetiere mit einem viergliedrigen Intelligenzsystem. Diese vierte Intelligenzebene arbeitet komplett anders als die drei älteren Intelligenzsysteme. Sie arbeitet nämlich rezeptiv, d.h. sie vermittelt ihre Informationen einem Menschen nur, wenn er Bereitschaft zeigt, die intuitiven Erkenntnisse zu empfangen. Während die drei tierischen Intelligenzen ihre Erkenntnisse ungefragt und aktiv dem egozentrierten Lebewesen zur Verfügung stellen, fordert die das Tier zum Menschen machende Intelligenz eine rezeptive, dienende, sich hingebende und vertrauende Haltung, bevor sie ihre Erkenntnisse als Einsichten preisgibt.

Wir lernen: Entwicklung des Menschen setzt ganz zuerst Entwicklung und Einübung von Demut, Hingabe und Vertrauen voraus.

Theiler weist nach, dass der Mensch, der die Führung seines Lebens dem Instinkt oder den Affekten überlässt, seinen Lebenssinn verpasst. Diese egogetriebenen Intelligenzen sind verantwortlich für die Grenzenlosigkeit ihrer Wünsche, für das Siegen-wollen im Kampf gegen „die andern“, für das Streben nach immer mehr materiellem Besitz, nach mehr Anerkennung und mehr Macht. Ohne bewussten Einbezug der intuitiv-spirituellen Ebene lebt der Mensch angstgetrieben, den materiellen Nutzen optimierend, unbewusst. Es führt zu einem egozentrierten, nicht sinnvollen Leben.

Wir lernen: Vernachlässigung der Entwicklung der intuitiv-spirituellen Ebene birgt die Gefahr eines unerfüllten, sinnlosen Lebens in sich.

Vom unbewussten zum integralen Menschen

Ein egozentrischer Mensch und ein integraler Mensch sind zwei grundverschiedene Wesen. Der eine will seinen Willen durchsetzen, ist entweder von seinem Instinkt oder von seinen Affekten getrieben, sorgt sich ängstlich um sein vermeintlich wichtiges Ego als Lebenszentrum. Der andere, der integrale Mensch, Theiler nennt ihn den rezeptiven Menschen, dient freudvoll dem Leben, lebt hingebungsvoll, bescheiden und bewusst. Natürlich existieren alle nur denkbaren Mischwesen. Der erstere glaubt sein Glück darin zu finden, indem er ängstlich materiellen Reichtum und Anerkennung anhäuft und sich fragwürdige Teilwünsche erfüllt. Der integrale Mensch entwickelt sich transformativ früher oder später aus dem aktiven, egozentrierten Menschen. Irgendeinmal im Leben (- oder vielleicht auch nie -), zum Beispiel zu Beginn einer Midlifecrisis oder einem andern begnadeten Moment, stellt sich der auf materielle Sicherheit und auf sich selbst fixierte Mensch die Frage: «Was ist denn der Sinn meines Lebens in Wirklichkeit?» Wer dann der inneren Stimme folgt und die Führung seines Lebens vom Instinkt oder den Affekten zur intuitiv-spirituellen Intelligenz verlagert, macht die notwendende Einsicht, dass ein auf sich selbst bezogenes Leben gar keinen Sinn macht, ein Leben als Teil des einen Seins jedoch aus sich selbst sinnvoll ist.

Wir lernen: Integrale Bewusstwerdung ist sehr oft die Folge eines begnadeten Moments, in dem sich der egozentrische Mensch nach dem Sinn des Lebens fragt.

Nur, und hier liegt die höchste Hürde zur Bewusstheit, ist diese Veränderung an einen vollständigen, tiefgreifenden, Körper und Geist betreffenden Wandel der Lebensgewohnheiten gebunden. Eine emotionale und intellektuelle Zustimmung allein nützt gar nichts. Wo früher Gier nach Reichtum und nach Anerkennung das Ego nährten und zur Gewohnheit wurden, sind nun Bescheidenheit und Hingabe Voraussetzung für ein freudiges, sorgenbefreites, alle andern Lebewesen als Teil seiner “Ichbinheit“ betrachtendes Leben, dessen grundlegendste Einsicht die Allverbundenheit und Einheit aller Wesen ist.

Wir lernen: Integrale Bewusstheit gibt es nur zum Preis einer tiefgreifenden Transformation. Anstelle der egozentrierten Gier nach Sicherheit und materiellem Reichtum tritt die Einsicht der Allverbundenheit aller Wesen und der Gleichwertigkeit aller Menschen. Dienende Hingabe für das Gemeinwohl ersetzt das egozentrische Wollen.

Zudem verabschiedet sich der integrale Mensch von der Idee, das Leben nach seinem Willen verändern zu wollen. Er gibt sich dem Leben hin, damit es ihn in Richtung grösserer Bewusstheit und Erfüllung verändern kann. Das notwendige Tun und Handeln entstammt also nicht dem Willen des integral bewussten Menschen. Er handelt aus Einsicht, d.h. als Ergebnis einer Sicht in das Eine und nachdem er in sich hinein gehört hat (intuieren, seine Intuition bemüht hat).

Wir lernen: Der integral bewusste Mensch anerkennt die vierte Lebensebene mit ihrer intuitiv-spirituellen Intelligenz als seine Lehrerin. Er ist sich bewusst, dass er als Handelnder ein Geführter ist. Jürg Theiler: «Das Leben führt die Menschen nicht dorthin, wohin sie wollen, es führt sie dorthin, wohin sie sollen.» Die geduldige Lehrerin führt den Menschen zu einem konstruktiven, bewussten, sinnvollen und erfüllten Leben.

Vertiefende Lektüre

Jürg Theiler, «Führung durch die Seele — Von der Zerstörung zur Erfüllung». Edition Spuren 2020


2 Antworten

  1. Lieber Gary
    Vielen Dank für den klaren Text. An einen Punkt kam ich ins Stocken: „Wir lernen: Ein Mensch ist umso mehr Mensch, je entwickelter seine intuitivspirituelle Intelligenz… ist.“ Daraus entnehme ich eine Wertung, eine Einstufbarkeit meiner Mitmenschen und von mir selbst. Von „mehr Mensch sein“‘ zu „ein besserer Mensch als die anderen sein“ ist es aus meiner Sicht nur noch ein kleiner Schritt. Und das finde ich sehr heikel.
    Was meinst Du, was meint Jürg Theiler genauer damit?

    1. Lieber Simon
      Herzlichen Dank für Deine anregende Frage.
      Die Gefahr, auf die Du aufmerksam machst, ist meines Erachtens deswegen sehr gering, weil für die Entwicklung der intuitiv-spirituellen Intelligenz eine demütige und hingebungsvolle Haltung eine Voraussetzung darstellt. Demut ist aber gerade die Haltung, die eine Selbsterhöhung und damit auch eine Klassifizierung der Mitmenschen in gut und besser ausschliesst.

Gefällt dir dieser ARtikel?

Teile ihn auf facebook
Teile ihn auf Twitter
Teile ihn per E-Mail

Weitere News