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Heilung durch Nähe

Markus Scheuring, Arzt und Psychotherapeut, blickt zurück auf Jahrzehnte der Erfahrung und besinnt sich auf das, was Leidenden wirklich hilft.  Der Artikel ist in der aktuellen Ausgabe zum Thema «Heilkunst» von SPUREN erschienen.

Im Laufe der ärztlichen Tätigkeit hat man oft mit dem Tod zu tun. Man könnte den Tod als Höhepunkt des Lebens bezeichnen, doch wir möchten ihm ausweichen und wollen ihn hinauszögern.
Mit all meinen Erfahrungen dazu, mit Menschen, die sich ins Jenseits hinein gehenlassen konnten, aber auch mit Menschen, die Unglaubliches erlitten an qualvollen Therapien, um etwas länger im Hier verweilen zu können, hat sich in mir dazu ein grosser Wunsch gebildet: dass ich selber beim Sterben von Menschen, die mir wichtig sind, begleitet werde, und dass meinem Wunsch nach Beistand liebevoll und menschlich entsprochen wird.
Ist das zu viel verlangt? Ich denke nicht.
Doch wie traurig stimmte es mich vor gut zwei Jahren, als viele ältere Menschen allein oder betreut von Helfenden in Schutzanzügen sterben mussten. Darf so das Lebensende sein, habe ich mich gefragt. Darf das sein? Dass Sterbende, Leidende praktisch alleine diesen Übergang machen müssen? Nein, war meine Antwort – eigentlich darf das nicht sein. Damit wird würdevolles Sterben verunmöglicht, was mir genauso wichtig erscheint wie würdevolles Leben. In diesem Zusammenhang kommt Berührung die grösste Bedeutung zu – körperlicher wie auch geistiger Berührung.

Dazu taucht in mir die Erinnerung an einen meiner grossen Lehrer auf, Peider Mohr, Chefarzt eines kleinen Spitals. Er, der im Buch Halte seine Hand mitschrieb, war ein Arzt, der sich zu seinen Patient_innen ans Bett setzte und durch Nähe Heilung bewirkte. Peider Mohrs Empathie wirkte über die physische Nähe hinaus. Da stellte sich Heilung ein, die nicht allein im Sinne der WHO «Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen» war, sondern ein Wohlsein trotz Krankheit. Wie abrupt fiel dann der Dienstwechsel in jenem Spital zum Jahresende aus, als ein Mediziner die Leitung übernahm. Trotz guter Technik fühlten sich die Betroffenen von einem Moment auf den anderen wieder krank, die Stimmung wurde trübe und grau.

Empathie kann heilen

Vom Wert des Berührtseins zeugt auch mein zu früh verstorbener Patient A. Seine Kindheit hatte er unter grässlichen Bedingungen verbracht, so schlimm, dass man das eigentlich gar nicht überleben kann. Doch er hatte die schweren Traumatisierungen überstanden, jedoch mit den damit verbundenen Störungen im psychischen wie körperlichen Bereich. Und er war ein grossartiger Tierfreund, empathisch auch mit den Mitmenschen, mit einem grossen Herzen.
Eines Tages musste er mit Herzbeschwerden hospitalisiert werden und kam zu fachlich sehr kompetenten Spezialisten. Während mehrerer Tage lag er im Bett, ständig gequält von Brustschmerzen. Immer wieder kamen kurz Ärzt:innen und Pflegekräfte vorbei. Die Behandlung beschränkte sich auf eine höhere Dosierung des Schmerzmittels. Erst nach drei Tagen fand eine der Fachpersonen Zeit, sich zu ihm zu setzen, mit ihm zu sprechen und ihn ernst zu nehmen. Das war der Moment, in dem sich seine Symptome ohne Befund lösen konnten.
Welche Art von Kunst ist im Gesundheitswesen denn am wesentlichsten? Das hängt ganz von der jeweiligen Situation ab: Hätte Patient A. eine Verengung der Herzkranzgefässe gehabt, wäre es auf die Kunst des Herztechnikers angekommen, zum Beispiel durch eine Öffnung des Gefässes oder sogar einen operativen Eingriff. Ich bewundere die Fertigkeit dieser Spezialisten, sie setzen viel Übung, Wissen und Begabung voraus. Auch in diesem Bereich gibt es Künstler, die sich nicht auf die technische Behandlung begrenzen, sondern die Kunst der Berührung ebenso beherrschen. Das unterscheidet dann den Mediziner vom Arzt, die Medizinerin von der Ärztin.
Doch was ist der Mensch, wie und wo wirken Berührung und Behandlung? Oft wird von Körper, Seele und Geist gesprochen. Seele und Geist sind schlecht definierte Anteile, ich ziehe die Einteilung des integralen Denkens vor in: materiellbiologische Ebene (Nahrung, Wärme, Fortpflanzung und so weiter); emotionale Ebene (Wahrnehmung, Gefühle, soziale Befindlichkeit); mentale Ebene (Denken, Wissen, Technik, Kunst, Gesellschaftssystem); spirituelle Ebene (Sinn, Geborgenheit, allumfassendes Sein).
Jede Erkrankung ist ein Geschehen auf allen diesen vier Ebenen, und über jede dieser Ebenen kann Einfluss auf Heilung und Heil genommen werden. Die naturwissenschaftliche Medizin konzentriert sich vor allem auf die materielle Ebene – unglaublich, was in diesem Bereich während der letzten 200 Jahre an Wissen und Techniken erworben worden ist. Dadurch wurde vieles machbar, was früher unvorstellbar war. Machbarkeit ist einerseits ein grosser Segen, wie wir wissen, zeitweise aber auch ein Fluch. Seit der Aufklärung wurde die Handwerkschirurgie, wie sie einst der Feldscher praktizierte, verfeinert: Unsägliche Methoden wie Aderlass und andere aggressive ableitende Methoden wurden hinterfragt. Nicht zuletzt gelang das dank der Ideen von Samuel Hahnemann, dem Begründer der Homöopathie, der dadurch half, viel Leid zu verhindern. Auch wurde dank Hahnemanns Denken das Augenmerk auf die Individualität des Kranken gelenkt. Entsprechend wahrgenommen, fühlt sich dieser besser, was gewiss der Heilung zugutekommt.

Alles Placebo?

Ob und wie homöopathische Mittel wirken, ist hier nicht die Frage: Sicher ist, dass die Aufmerksamkeit und die Zeit, die den Leidenden geschenkt wird, heilsam sein kann. Die Ärztin als Heilmittel – wirksam eher auf der emotionalen Ebene. Wohl am stärksten zugutekommen diese Faktoren jenem Heiler, der jede und jeder in sich hat. Modern ausgedrückt, spricht man vom Placeboeffekt.
Damit sind wir im Bereich der Erfahrungsmedizin gelandet. Deren komplementäre oder alternative Methoden können auf den verschiedenen erwähnten Ebenen wirken. Oft zu Unrecht müssen sie darben im Schatten der mächtigen rationalen Medizin.
Die rationale naturwissenschaftliche Medizin nimmt sehr viel Platz ein, sie repräsentiert das Machen, das Haben. Der Gegenpol des Seins muss unten durch und verhärtet sich in der Not oft. Dadurch erfahren wir eine unheilsame Trennung mit extremen Positionen. Diese Extreme, die wir auch im gesellschaftlichen Feld wahrnehmen können, beeinträchtigen das Individuum und bringen es in Not.
Extreme machen Angst, was der Gesunderhaltung und Heilung nicht förderlich ist. Diese Angst wiederum versuchen wir in den Griff zu bekommen – anstatt mit ihr in Kontakt zu gehen und deren Ursachen zu suchen und zu verändern.
Angst ist wohl der grundlegendste Antrieb zur Entwicklung von Schutz. Angst vor Leiden, dieses steht wiederum in einem engen Zusammenhang mit dem Leben. Wie wir alle wissen, beinhaltet Leben auch Leiden. Doch dem versuchen wir auszuweichen, es zu verhindern. Eng verbunden mit Leiden ist Krankheit: Deshalb wohl die Übermacht der «Schulmedizin», die so effektiv wurde in der Behandlung
von schweren Erkrankungen, aber auch so bestimmend in der Anästhesie, Diagnostik, Interventionen, Chirurgie, Medikamenten und so weiter. Diese Dominanz kann dazu führen, dass wesentliche Lebensaspekte ausgeschlossen werden, anstatt ein Sowohl-als-auch zu ermöglichen. Es bleibt dann ein Unbehagen, was wiederum ein Grund ist für eine Störung im emotionalen Bereich.
Im mentalen Bereich kann zum Beispiel über die Kunst wieder einiges an Belastendem abgearbeitet werden. Kunsttherapie ist im Übrigen eine wichtige Möglichkeit, eigenaktiv an der Heilung oder der Linderung mitzuwirken. Ähnlich die Sprache in der Psychotherapie. Es kommt offensichtlich die Möglichkeit zum Tragen, vom Erdulden ins Handeln zu gehen. Wenn dieses Handeln vom Gegenüber gespiegelt und wahrgenommen werden kann, fühle ich mich nicht mehr verloren, sondern gesehen. Hier besteht auch die Möglichkeit, den Zusammenhang, eine Rückverbindung mit Mutter Erde zu ermöglichen, was über schamanische Praktiken unterstützt werden kann.
Von «Mutter Erde» zu «Vater Himmel» ist es dann nicht mehr weit, wodurch die Verbindung zum Spirituellen ihre Bedeutung bekommt. Auch hier können komplementäre Techniken – ich denke an Gruppentherapien oder Aufstellungen – hilfreich eingesetzt werden. Auch andere, die Frage des Existenziellen betreffende Begegnungen werden dann wichtig, zum Beispiel die Seelsorge, insbesondere bei schwerer Erkrankung und im Sterbeprozess. Ich meine eine Seelsorge im weitesten Sinn, sie geschieht durch meine Nächsten, durch die Pflege, durch Fachleute. Auch hier wird wieder Gemeinschaft geschaffen. Nicht nur Betroffene, sondern auch Begleitende können daran wachsen und reifen. Und, wenn körperliche Heilung nicht mehr das Ziel sein kann, wirkt Trost lindernd. Der Tatsache, dass der Mensch ein soziales Wesen ist, wird auch hier Rechnung getragen.

Was ist mein Anliegen als Mensch und Arzt? Es wäre sinnvoll, eine Versöhnung der Heilkünste, die jetzt grösstenteils in der Spaltung sind, zustande zu bringen. Modelle dazu gibt es viele. Als Beispiel führe ich gerne die «Menschenmedizin für eine kluge Heilkunst» von Christian Hess und dessen Frau Annina an. Diese Art von Menschenmedizin wurde modellhaft im Spital Affoltern/ZH gelebt und experimentiert. Ein Vermächtnis für Christian Hess ist die «Akademie Menschenmedizin für ein menschengerechtes, bezahlbares Gesundheitssystem».

Gefahren in der Entwicklung

So sehr ich Gefahren in der Entwicklung des heutigen Gesundheitssystems mit der Dominanz des Rationalen und Machbaren sehe, so sehr bereiten mir auch Extremformen der empirischen Medizin Sorge. Habe ich doch meine allerschlimmsten Erfahrungen von Unheil nicht mit den heute dominanten Techniken erfahren, sondern durch überhebliche Allmachtsfantasien von alternativen, das Komplementäre ablehnenden Methoden. Da gilt es sehr kritisch zu bleiben und nicht Versprechen auf den Leim zu gehen, die unhaltbar sind.
Konkret handelt es sich um einen Patienten im mittleren Alter mit Familie. Er war schwer erkrankt, alle Register wurden gezogen, doch der Verlauf war schicksalshaft. Ihm wurde in der Sterbephase aufgeschwatzt, mit der entsprechenden alternativen Therapie seine Erkrankung heilen zu können. Dazu wurde er von der Familie entfernt, musste sich von dieser lossagen (unter den falschen Versprechungen einer möglichen Heilung) und konnte so von seinen Lieben – entgegen deren ausdrücklichen Wunsch – nicht in den Tod begleitet werden. Das war sehr schlimm. Bei seinen Nächsten und auch bei mir als hilflos zusehendem Arzt ist diese Wunde noch offen.
Was fehlt in meinen Ausführungen? Vielleicht das Wichtigste: die Liebe, ein universelles Heilmittel.

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