Die eidgenössischen Abstimmungsvorlagen vom 22. September 2024

 

Erklärung zum Vorgehen und zum Ziel des Politischen Kommentars

Der politische Kommentar der IP Schweiz ist das Ergebnis eines Prozesses, mit dessen Hilfe integrale Positionen zu eidgenössischen Abstimmungsvorlagen gefunden werden. Dabei wird ermittelt, ob eine Vorlage einen Schritt in die Richtung einer Vision einer integralen Gesellschaft bedeutet, das heisst, einen Beitrag zur Transformation der Gesellschaft leistet, oder ob das Anliegen nur eine sich im Kreis drehende Variante des Bestehenden ist. Die Vorlagen werden vom Politischen Ausschuss der IP Schweiz beurteilt.

Das Ergebnis dieses Ermittelns entspringt einer Momentaufnahme und findet Ausdruck in einer integralen Abstimmungsempfehlung mit konkreten Begründungen.

Das Ziel des Kommentars ist es, die Leserinnen und Leser zu animieren, mit ähnlichen, visionsorientierten Überlegungen zu ihrem je eigenen Ergebnis zu kommen. Das Ziel einer integralen Position ist es nicht, Recht zu haben, sondern die Menschen zu mehr Bewusstheit zu führen.

Die Verantwortlichen für diese Ausgabe sind: Pierrot Hans, Pascal Furrer, Remy Holenstein, Kathrin Schelker, Tizian Frey


«Fortschritt besteht nicht in der Verbesserung dessen, was war, sondern in der Ausrichtung auf das, was sein wird.» Khalil Gibran

 
 

1 – Volksinitiative «für die Zukunft unserer Natur und Landschaft (Biodiversitätsinitiative)»

 

Was die Vorlage will

Die Biodiversität, also die Vielfalt aller Lebewesen und Lebensräume, ist in der Schweiz in den letzten 100 Jahren stark zurückgegangen. Dies liegt insbesondere am grossen, flächenmässigen Verlust artenreicher Lebensräume wie Trockenwiesen, Weiden und Moore. Weiter nimmt die Qualität der geschützten Lebensräume stetig ab.  (Quelle: Biodiversität in der Schweiz: Zustand und Entwicklung BAFU 2017.)

Auch Landschaften und Ortsbilder sind unter Druck. Daher schützen Bund und Kantone Biotope, bedrohte Arten sowie wertvolle Landschaften und Ortsbilder. Sie pflegen Schutzgebiete und fördern die Biodiversität, auch in der Landwirtschaft.

Den Initiant:innen gehen diese Massnahmen zu wenig weit. Sie wollen die Natur, die Landschaft und das baukulturelle Erbe zusätzlich schützen. Die Initiative verlangt für die Biodiversität mehr Geld und mehr zweckdienliche Schutzflächen. Und sie will insbesondere die Kantone stärker in die Pflicht nehmen, damit sie vermehrt Landschaften und Ortsbilder bewahren. So sollen die prägenden Elemente schützenswerter Biotope, Landschaften und Ortsbilder ungeschmälert erhalten werden. Schliesslich will die Initiative Natur, Landschaft und baukulturelles Erbe auch ausserhalb der Schutzgebiete schonen.

Das integrale Zukunftsbild

In einer Integralen Gesellschaft ist die Wertschätzung und schöpferische Pflege einer umfassenden Biodiversität Teil des persönlichen und gesellschaftlichen Bewusstwerdungsprozesses und in diesem Sinne eine Selbstverständlichkeit.

Abstimmungsempfehlung: Aus Sicht des Politischen Ausschusses tendiert die Initiative klar in Richtung der Integralen Vision.  

Unsere Überlegungen dazu:

    1. Wir sind mit den Initiant:innen einverstanden, dass die bisherigen Bemühungen nicht ausreichen, um die Biodiversität in der Schweiz angemessen zu schützen und zu fördern. Natürliche Prozesse, welche die Grundlage von Allem und im Besonderen auch unseres Lebens bilden, müssen weiterhin und vermehrt ermöglicht und unterstützt werden.
    2. Falls die Initiative abgelehnt wird, sind Bund und Kantone zwar weiterhin in der bisherigen Handlungspflicht, sie werden jedoch nicht ermuntert, die Biodiversität stärker zu erhalten und zu fördern.
    3. Falls die Initiative angenommen wird, werden Bund und Kantone verpflichtet, mehr für unser aller Lebensgrundlagen zu tun. Zudem können die Kulturschützer:innen sich in Zukunft bei ihrer Argumentation verstärkt auf den Volkswillen berufen.
    4. Die Initiative ist sehr offen formuliert. Sie lässt Raum für Spekulationen. Das wird von den Initiativgegner:innen genutzt. Sie sagen beispielsweise, dass die Ausgleichsflächen auf 30% ausgedehnt würden. Jedoch bleibt dies der Gesetzgebung überlassen, denn im Initiativ-Text stehen keine Zahlen.
      Wäre die Initiative nicht so offen formuliert worden, hätte sie in der Volksabstimmung wahrscheinlich keine Chance, angenommen zu werden.
    5. Wir können nachvollziehen, dass die konventionell arbeitenden Landwirt:innen, welche ihre Flächen maschinell bearbeiten, befürchten, dass Einschränkungen auf sie zukommen und dass sie Fläche abgeben müssen.
      Die Angst der ländlichen Bevölkerung ist nachvollziehbar, fühlt sie sich doch oft bevormundet von der Stadtbevölkerung, welche ihr ‘dreinreden’ will.
    6. Wir möchten anmerken, dass für eine wirksame Biodiversität nicht allein die Fläche entscheidend ist. Für eine optimale Biodiversität reichen rund 10 % der Landwirtschaftsfläche, also kaum mehr als heute. Aber diese Flächen benötigen einen verpflichtenden Schutz und zweckdienliche Strukturen in der Landschaft. Beispielsweise sind Hecken, „Trittsteine“ und auslaufende Waldränder sehr nützlich für die Artenvielfalt. Sie brauchen nicht viel Fläche und sind trotzdem sehr effektiv.
    7. In der Initiative ist auch der Schutz von historischen Gebäuden, von schutzwürdigen Landschaften, Ortsbildern, geschichtlichen Stätten sowie Natur- und Kulturdenkmälern vorgesehen. Darüber wird wenig geredet. Sie sind für ein Leben in angenehmer Umgebung ebenfalls wichtig. Dementsprechend soll das baukulturelle Erbe auch ausserhalb der Schutzobjekte geschont werden.

      Die besonderen Anliegen der IP: 

      1. Wir Menschen erleben uns heute grossteils als abgetrennt von der Natur. Eine Integrale Gesellschaft nimmt Biodiversität als Grundlage für das Leben auf unserer Erde wahr. Die Menschen erleben sich selber als Teil dieser Lebensvielfalt.
      2. Die Erhaltung und der Schutz der Lebensvielfalt bringt allen Menschen, allen Lebewesen und der Lebenswelt als Ganzes die für ein nachhaltiges Überleben notwendige Unterstützung. Je vielfältiger die Diversität ist, umso abwechslungsreicher, nachhaltiger und chancenreicher wird unser Leben.
      3. Um Missverständnisse zu vermeiden, wünschen wir uns das Erarbeiten einer genauen Festlegung der Begriffe Biodiversität, Kulturland und die Klärung, was wir unter einer wertvollen Landschaft verstehen. Alle Menschen sollen die Möglichkeit erhalten, sich an diesem Prozess zu beteiligen.
      4. Wir schlagen vor, dass in allen Regionen – unter Einbindung möglichst der ganzen Bevölkerung – weitere ermutigende Massnahmen umgesetzt werden, damit ein tieferes Bewusstsein für die Zusammenhänge zwischen menschlichem Verhalten und der Biodiversität gefördert wird.
 

2 – Bundesgesetz über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge ( BVG Reform) ( Reform der beruflichen Vorsorge)


Was die Vorlage will

Sie sieht Massnahmen vor, um künftige Renten sicherer zu finanzieren und die Absicherung von Teilzeitbeschäftigten und Personen mit tieferen Löhnen zu verbessern.

Für viele Menschen ist die berufliche Vorsorge (2. Säule) eine wichtige Ergänzung zur AHV (1. Säule). Während ihres Berufslebens sparen sie mit ihren Lohnbeiträgen und den Beiträgen ihrer Arbeitgeber in der Pensionskasse ein Altersguthaben an. Damit wird später die Pensionskassenrente bezahlt. Bis zu einem bestimmten Einkommen legt das Gesetz fest, wie viel Rente pro gesparten Franken mindestens ausbezahlt werden muss. Wegen zu tiefer Erträge an den Finanzmärkten und wegen der steigenden Lebenserwartung sind die Renten im sogenannten obligatorischen Teil der beruflichen Vorsorge aber nicht mehr ausreichend finanziert. Davon betroffen sind insbesondere Pensionskassen, die nur das gesetzliche Minimum oder ein wenig mehr anbieten. Hinzu kommt ein zweites Problem: Wer wenig verdient, hat später keine oder eine sehr kleine Pensionskassenrente. Darunter sind überdurchschnittlich viele Frauen, weil sie häufig Teilzeit arbeiten oder in Branchen mit tiefen Löhnen.

Die Reform sieht Massnahmen vor, mit denen die künftigen Renten sicherer finanziert werden. Zudem werden viele Geringverdienende später eine höhere Rente erhalten: Sie und ihre Arbeitgeber bezahlen dafür jeden Monat höhere Sparbeiträge als heute. Die meisten Arbeitnehmer:innen haben eine Pensionskasse, die deutlich mehr als die gesetzlichen Mindestleistungen anbietet. In dieser Hinsicht hat die Reform auf sie wenig Auswirkungen. Die Renten von Menschen, die bereits pensioniert sind, sind von der Reform nicht betroffen.

Gegen die Reform wurde das Referendum ergriffen.

 

Das integrale Zukunftsbild

Eine integrale Gesellschaft kümmert sich sorgfältig um das Wohlergehen aller Mitmenschen jeden Alters.

Abstimmungsempfehlung: Das Anliegen der Gesetzmacher:innen zielt in Richtung unserer Vision. Wir zweifeln daran, dass die gewählten Massnahmen einen wesentlichen Beitrag auf dem Weg zu diesem Ziel leisten werden.

 

Argumente der Befürworter:

  • Für Bundesrat und Parlament ist die Reform nötig, damit die künftigen Renten der obligatorischen beruflichen Vorsorge wieder ausreichend und langfristig finanziert werden können.
  • Die Behörden wollen mit der Reform zudem eine solidere finanzielle Basis schaffen für jene Pensionskassen, welche heute nur die gesetzlichen Mindestleistungen anbieten können.
  • Heute sind nur Personen bei einer Pensionskasse versichert, die bei einem Arbeitgeber in einem Jahr mehr als 22 050 Franken verdienen. Nicht versichert sind viele Angestellte in schlecht bezahlten Berufen. Die Reform erleichtert ihnen den Zugang zur beruflichen Vorsorge.
  • Es betrifft vor allem Frauen. Sie arbeiten überdurchschnittlich häufig Teilzeit und erreichen heute das geforderte Einkommen für einen Beitritt zu einer Pensionskasse nicht.
  • Einem Teil von ihnen wird bei Annahme der Reform die Möglichkeit eröffnet, einer Pensionskasse beizutreten.
  • Dadurch können schätzungsweise 50’000 Personen einer Pensionskasse beitreten, die bisher davon ausgeschlossen waren. Niemand kann voraussagen, wie viele davon Gebrauch machen werden.
  • Eine Reform ist nötig, weil alles teurer wird. Dadurch nimmt die Kaufkraft der Pensionskassenrente ab und schmälert die Altersversorgung. Die Reform ermöglicht eine gewisse Gegenwirkung.

Argumente der Gegner:

  • Bei Annahme der Reform sinken die garantierten Renten um bis zu 12% (3200 Franken pro Jahr), weil der sogenannte Umwandlungssatz von 6,8 auf 6,0 gesenkt wird.
  • Davon betroffen sind insbesondere Beschäftigte im Alter über 50 Jahre.
  • Bei der Zustimmung zur Vorlage müssen die Versicherten höhere Beiträge in die Pensionskasse einzahlen. Das erhöht die monatlichen Prämien an die Pensionskassen um bis zu 200 Franken.
  • Das schwächt die Kaufkraft der Konsument:innen. Zwar schaffen die Versicherungen Arbeitsplätze, aber wegen den höheren Lohnabzügen und dem Schwinden der Kaufkraft vermindert sich wiederum das Angebot an Arbeitsplätzen.
  • Die zusätzlichen Kosten werden die Versicherten bezahlen und es macht den Anschein, dass die Banken, Makler und Versicherungen die Gewinner dieser Umlagerung sein werden. In geringerem Mass ist das auch heute schon der Fall.
  • Insbesondere Frauen mit tiefen Löhnen – denen ursprünglich eine Verbesserung zugedacht war – müssen in Zukunft deutlich mehr in die Pensionskassen einzahlen, als sie im Alter erhalten werden.
 

Das besondere Anliegen der IP

  1. Wir wünschen uns eine gerechte Verteilung von Einkommen, die das Gemeinwohl in den Vordergrund stellt. Die Idee einer gesicherten Altersvorsorge ist ein klares Anliegen, das in Richtung der Vision geht. Dies könnte einmal mehr zum Nachdenken über einer Ablösung des Systems der Pensionskasse mit ihren vielen nachteiligen Wirkungen (Bodenpreise, Mieten und andere Finanzierungssysteme) anregen.
  2. Wir befürworten die Möglichkeit der gleichen Rente für alle. Die Grundversorgung der Bevölkerung, und damit auch die Altersversorgung, ist eine gesellschaftliche Aufgabe. Sie ist ein über eine gerechte Verteilung lösbares Problem. Die Lösung wird aus der gemeinsamen Fülle genährt.
  3. Sind wir uns bewusst, was das Mass für die Zuweisung von Löhnen und Renten sein soll? In einer Integralen Gesellschaft sind alle Menschen in derart wichtige Entscheidungen einbezogen. Eine grundsätzliche Auseinandersetzung ermöglicht Lösungen, die der gesamten Bevölkerung zugutekommen.
  4. Unsere Wirtschaft ist dank der Arbeit von uns allen sehr leistungsfähig. Geld für eine menschenwürdige Altersversorgung ist reichlich vorhanden. Deshalb können durch eine gerechtere Verteilung viele der heute anstehenden Probleme vermindert oder ganz gelöst werden.

3 Antworten

  1. eure Überlegungen und Gedanken kann ich nachvollziehen und danke euch für euren gut formulierten Kommentar ohne „JA /NEIN“-Empfehlung.
    Josef Vogel

  2. Wie bei allen Ansichten um eine Lösung von Problemen gibt es unterschiedliche Ansichten aber auch tiefgründigere Ursachenforschung.
    Mit einem bisschen mehr Symptombekämpfung lassen sich solche Problemstellungen wie der Rückgang der Biodiversität nicht lösen. Es mag zwar dem Gefühl, etwas für die Natur zu tun Aufwind geben, ob damit wirklich die Ursache angepackt wird ist fraglich. Wollen wir noch mehr Staat, einen Einheitsstaat welcher alles bestimmt? Schliesslich hat genau diese staatliche Regulierung zu dem Problem geführt. Weitere Ursachen für den Rückgang der Biodiversität ist der Elektrosmog, Mobilfunk etc. davon ist leider nichts erwähnt in dieser Initiative, auch dazu gibt es eine Menge an Studien.
    Als einen vertieften Blick auf die diese Thematik der Biodiversität empfehle ich die Abstimmungsempfehlung der Fördergesellschaft Demokratie Schweiz, vielleicht ergibt sich daraus eine vertiefte Grundlage zu einer Meinungsbildung für diese Abstimmung.
    https://demokratie-schweiz.ch/2024/08/22/biodiversitaets-initiative/
    Bruno Rieser

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