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Die eidgenössischen Abstimmungsvorlagen vom 15. Mai 2022

Ja zur Änderung des Filmgesetzes – Nein zur Änderung des Transplantationsgesetzes – Nein zur Übernahme der EU-Verordnung über die Europäische Grenz- und Küstenwache

«Fortschritt besteht nicht in der Verbesserung dessen, was war, sondern in der Ausrichtung auf das, was sein wird.» Khalil Gibran

1 – Änderung des Filmgesetzes

Was die Vorlage will

Die Änderung des Filmgesetzes soll die Vielfalt und Qualität des Filmangebots sowie das Filmschaffen fördern und die Filmkultur stärken. Die Änderung sieht zudem vor, dass Streaming-Dienste künftig vier Prozent ihres in der Schweiz erzielten Umsatzes in das hiesige Filmschaffen investieren müssen (so wie es heute schon für die Fernsehsender geregelt ist). Sie können sich entweder direkt an Schweizer Film- und Serienproduktionen beteiligen oder eine Ersatzabgabe entrichten, die der Schweizer Filmförderung zugutekommt. Zudem muss das Angebot der Streaming-Dienste künftig zu 30 Prozent aus Filmen oder Serien bestehen, die in Europa produziert wurden.

Gegen die Gesetzesänderung wurde das Referendum ergriffen; insbesondere mit den Argumenten, dass das Gesetz einen krassen Eingriff in die Wirtschaftsfreiheit bewirke und dass mehr Geld für das lokale Filmschaffen keine qualitative Verbesserung garantiere.

Das integrale Zukunftsbild

In einer integralen Gesellschaft ist das Filmangebot ein Teil der Kulturvermittlung, welche die Mitglieder der Gemeinschaft befähigt, am Leben in der Gemeinschaft informiert mitwirken zu können.

Abstimmungsempfehlung: JA

Unsere Überlegungen dazu

Was für ein Ja spricht:

  1. Mit den zusätzlichen Regelungen soll den Schweizer:innen nahe gebracht werden, dass es neben dem grossen Angebot an Mainstream-Filmen auch ein ansehnliches Angebot an europäischen Filmen gibt, welche das lokale Bildungsangebot vergrössern und zur Meinungsbildung beitragen können.
  2. Europäische und einheimische Filme können das Heimatgefühl stärken. Das außereuropäische Filmangebot enthält gleichzeitig das Potential, die Verbundenheit der Menschen mit der Welt zu stärken.
  3. Die Vorschrift an die Anbieter, auch auf einheimische Angebote aufmerksam zu machen, kann möglicherweise ein Präzedenzfall werden, damit auch in anderen Bereichen auf Angebote aufmerksam gemacht wird, welche den Menschen dienen.
  4. Mit einfachen Mitteln hergestellte Filme können durchaus nützliche kulturpolitische Aussagen vermitteln und damit zu Diskussionen anregen.
  5. Je vielfältiger das Filmangebot ist, umso mehr Filme sind darunter zu finden, die Freude bereiten, die bilden, inspirieren und dazu führen, dass wir die eigene Mitgestaltung in der Gesellschaft bewusster erkennen, spüren und erfahren. Filme dienen
    auch der Entspannung, dem Vergnügen, der Kulturvermittlung und damit der Identifikation sowie Reflexion.
  6. Die Annahme der Gesetzesänderung verschafft den Kulturschaffenden mehr Beachtung.
  7. Die Gesetzesänderung regt die Auseinandersetzung an, welche Medien und Angebote wir für unsere Gesellschaft nützlich finden.
  8. Die Fokussierung auf das einheimische Filmschaffen wirkt sich auf dessen Qualität aus. Dies wiederum kann eine offene Meinungsbildung fördern.

Für ein Nein spricht:

  1. Das Gesetz kann als die Freiheit der Anbieter einschränkend – als Eingriff in die Wirtschaftsfreiheit – wahrgenommen werden mit Auswirkungen auf die Preise für den Konsumenten.
  2. Ob viel Geld auch viel Qualität schafft? Nicht selten ist dies den Filmen sogar abträglich, weil das grosse Geld Filme bevorzugt, die das Streben danach fördern.
  3. Das Gesetz könnte von gewissen Gruppen von Konsument:innen als ‘ihr Filmangebot einschränkend’ betrachtet werden.

Das besondere Anliegen der IP

  • Wir wünschen uns eine Filmförderung, welche eine Fülle von Angeboten bewirkt, die Vielfalt des Lebens zeigt, die Kommunikation fördert und Brücken zu anderen Völkern baut.
  • Die Filmschaffenden sollen möglichst ohne finanzielle Beschränkungen ihr persönliches Potential entfalten können. Dafür verdienen sie die Unterstützung der Gesellschaft.
  • Wir alle sollten uns selber als Filmmacher: innen, als Informationsvermittler:innen verstehen. Wir sind Schauspieler:innen im „Lebensfilm“. Uns allen steht das Schöpferische zur Verfügung.
  • Die Verpflichtung, dass 30% der Filmangebote aus europäischer Produktion stammen sollen, finden wir grundsätzlich angemessen. Begrüssenswerter wäre aus unserer Sicht die Bestimmung, dass je 20% der Filme aus allen Kontinenten aufgelistet werden müssen.

2 – Änderung des Transplantationsgesetzes (indirekter Gegenvorschlag zur Volksinitiative «Organspende fördern – Leben retten»)

Was die Vorlage will

Bundesrat und Parlament möchten die Chance von Patientinnen und Patienten erhöhen, ein Organ zu erhalten. Sie wollen darum die Organspende neu regeln: Wer seine Organe nicht spenden möchte, muss dies zu Lebzeiten festhalten (Widerspruchslösung). Hat eine Person nicht widersprochen, wird davon ausgegangen, dass sie ihre Organe spenden möchte. Gleichwohl werden in diesem Fall die Angehörigen einbezogen. Sie können eine Organspende ablehnen, wenn sie wissen oder vermuten, dass die betroffene Person sich dagegen entschieden hätte. Sind keine Angehörigen erreichbar, dürfen keine Organe entnommen werden.

Gegen die Gesetzesänderung wurde das Referendum ergriffen. Es bestehen grosse Bedenken gegenüber der medizinischen Festlegung des Zeitpunktes des Todes (Aussetzen der Hirntätigkeit) und der Art von Organentnahmen in der Praxis, wie auch bezüglich des ‘Transplantationsmarktes’.

Das integrale Zukunftsbild

In einer Integralen Gesellschaft basiert die individuelle Entscheidungsfindung bezüglich Organtransplantation auf einem grundlegenden Verständnis und Bewusstsein in diesem Thema. Dieses wird im Laufe der Entwicklung eines Menschen ganz natürlich gebildet, wenn sich die Menschen in gemeinsamen Gesprächen darüber austauschen.

Abstimmungsempfehlung: NEIN

Unsere Überlegungen dazu

  1. Wir anerkennen das Anliegen, Menschen durch eine Organspende das Leben zu retten und/oder ihre Lebensqualität entscheidend zu verbessern. Auch sehen wir die Dringlichkeit, mehr Organe zur Verfügung zu haben, als dies heute der Fall ist.
  2. Wir sind jedoch der Überzeugung, dass der Entscheidung, ob ein Mensch eines seiner Organe spenden will, ein umfassender Bewusstwerdungsprozess vorausgehen muss – sowohl in der Gesellschaft als auch bei den einzelnen Menschen. Dieser ist unserer Ansicht nach bei einer Regelung von “Nichts gesagt heisst ‘Ja’ gesagt” nicht gegeben.
  3. Anderseits ist es denkbar, dass durch diese Regelung ein solcher Bewusstwerdungsprozess in Gang gesetzt wird: “Wenn ich als Mensch zur Kenntnis nehme, dass mir Organe entnommen werden können, wenn ich “nichts” sage, kann dies meine Bereitschaft, mich mit dem Thema auseinander zu setzen, erhöhen”.
  4. Das Resultat dieser Abstimmung kann zum Präzedenzfall werden für Fragen der Transhumanität und für andere Situationen, welche heute ein “informiertes Einverständnis” verlangen.

Das besondere Anliegen der IP

  • Es geht hier um ein Thema, welches vielschichtige Bereiche des menschlichen Lebens wie zum Beispiel physische Vergänglichkeit, Verständnis von Gesundheit, Verantwortung, Entscheidungsfindung, Solidarität, Spiritualität, berührt. Es ist unser Anliegen, dass eine tiefe, persönliche Verständigung über solche Fragen stattfindet.
  • Die vorliegende Abstimmung kann ein echter Anlass sein, Gespräche über dieses wichtige Thema zu führen.

3 – Übernahme der EU-Verordnung über die Europäische Grenz- und Küstenwache (Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands)

Was die Vorlage will

Es geht bei dieser Vorlage um den Ausbau der europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex), welche die Schengen-Staaten operativ bei der Kontrolle der Schengen-Aussengrenzen unterstützt. Mit dem Ausbau erhält Frontex mehr Geld und Personal. Dazu kommen neue Aufgaben im Bereich der Rückführung ausreisepflichtiger Personen. Zudem wird die unabhängige Stelle für Grundrechte aufgestockt. Sie soll dazu beitragen, dass bei Einsätzen an den Schengen-Aussengrenzen die Rechte aller gewahrt werden. Mit der Vorlage von Bundesrat und Parlament übernimmt die Schweiz ihren Anteil an dieser Reform. Ihr finanzieller Beitrag an Frontex steigt schrittweise von heute 24 auf 61 Millionen CHF an. Auch wird sie mehr Personal und Material zur Verfügung stellen. Falls die Schweiz diese Schengen-Weiterentwicklung ablehnt, endet ihre Zusammenarbeit mit den Schengen- und Dublin-Staaten automatisch – es sei denn, die EU-Staaten und die EU-Kommission kommen der Schweiz entgegen. Das Parlament hat die Übernahme der EU-Verordnung beschlossen, weil dadurch die Sicherheit in Europa erhöht werden könne. Der Bundesrat unterstützt dies.

Gegen den Bundesbeschluss wurde von einer grossen Gruppe von Flüchtlingsorganisationen, der SP und Jungparteien das Referendum ergriffen mit der Begründung, dass mit der Übernahme der EU-Verordnung eine Organisation grosszügig unterstützt werde, welche mitverantwortlich sei an der an den EU-Aussengrenzen ausgeübten Gewalt und dem Flüchtlingselend.

Die Vorlage mit ihren Auswirkungen ist komplex und betrifft sehr unterschiedliche gesellschaftspolitische Bereiche. Darum seien hier die wichtigsten Argumente pro und kontra im Detail aufgeführt.

Argumente der Befürworter:

  1. Dank systematischer Kontrollen der Aussengrenzen ist die Reisefreiheit innerhalb des Schengen-Raumes möglich. Ein Ausbau der Frontex verstärkt die Sicherheit auch für die Schweiz.
  2. Mit der Beteiligung der Schweiz kann diese auf die Tätigkeit der Frontex Einfluss nehmen und sich für die Einhaltung der Grundrechte einsetzen.
  3. Bei einem Nein läuft die Schweiz Gefahr, aus der Schengen-Vereinbarung ausgeschlossen zu werden.
  4. Die mit dem Gesetz unterstützte Schengen-Reform verstärkt den Schutz der Grundrechte.
  5. Bei der Rückkehr von ausreisepflichtigen Personen ist die Zusammenarbeit der Schengen-Staaten zentral.

Argumente der Gegner:

  1. Frontex ist mitverantwortlich für Gewalt, Tod und Elend insbesondere für Flüchtlinge an den Aussengrenzen Europas.
  2. Als Nicht-EU Staat hat die Schweiz nur beschränktes Mitspracherecht, bezahlt aber einen überproportionalen Beitrag.
  3. Flüchtlinge berichten immer wieder über Menschenrechtsverletzungen durch Frontex-Kräfte.
  4. Die Haltung und Praxis von Frontex ist Ausdruck einer in vielen Fällen unmenschlichen Abschottungspolitik der Schengen-Staaten, welche die Schweiz nicht unterstützen sollte.

Das integrale Zukunftsbild

In einer Integralen Gesellschaft werden Menschen, welche ihren Lebensmittelpunkt in ein anderes Land verlegen wollen, von der neuen Gemeinschaft bei der Integration unterstützt.

Abstimmungsempfehlung: NEIN

Unsere Überlegungen dazu

  1. Das Referendums-Komitee legt mehrere Beweise dafür vor, dass Frontex mitverantwortlich dafür ist, dass Flüchtende entrechtet, misshandelt und abgeschoben werden. Der Schutz der Menschenrechte, insbesondere der persönlichen Integrität und des freien Willens der Menschen muss auch hier an erster Stelle stehen.
  2. Eine integrale Gesellschaft schottet sich nicht ab (vgl. Punkt 4 der Argumente der Gegner), sondern betrachtet zuwandernde Menschen als Bereicherung.
  3. Frontex widerspiegelt als Organisation eine Haltung der europäischen Staaten (inklusive Schweiz), die geprägt ist durch Angst vor Fremdem und dem Wunsch, die eigenen Privilegien aufrecht zu erhalten.

Das besondere Anliegen der IP

  • Die für die Aufstockung der Frontex vorgesehenen Mittel könnten gezielt zur Lösung der Migrations-Ursachen eingesetzt werden.
  • Eine bessere europäische Zusammenarbeit bezüglich Integration von Migrant:innen wäre wünschenswert.
  • Eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Traumata der europäischen Geschichte könnte hilfreich sein in der Bewältigung der kollektiven Ängste.

Erklärung zum Vorgehen und zum Ziel des Politischen Kommentars

Der politische Kommentar der IP Schweiz ist das Ergebnis eines Prozesses, mit dessen Hilfe integrale Positionen zu eidgenössischen Abstimmungsvorlagen gefunden werden. Dabei wird ermittelt, ob eine Vorlage einen Schritt in die Richtung einer Vision einer integralen Gesellschaft bedeutet, das heisst, einen Beitrag zur Transformation der Gesellschaft leistet, oder ob das Anliegen nur eine sich im Kreis drehende Variante des Bestehenden ist. Die Vorlagen werden vom Politischen Ausschuss der IP Schweiz beurteilt.

Das Ergebnis dieses Ermittelns entspringt einer Momentaufnahme und findet Ausdruck in einer integralen Abstimmungsempfehlung mit konkreten Begründungen.

Das Ziel des Kommentars ist es, die Leserinnen und Leser zu animieren, mit ähnlichen, visionsorientierten Überlegungen zu ihrem je eigenen Ergebnis zu kommen. Das Ziel einer integralen Position ist es nicht, Recht zu haben, sondern die Menschen zu mehr Bewusstheit zu führen.

Die Verantwortlichen für diese Ausgabe sind: Kathrin Schelker, Hanspeter Bühler, Jakob Elmer, Tizian Frey, Pascal Furrer, Pierrot Hans, Remy Holenstein

Eine Antwort

  1. Mit Ihren Vorschlägen (politischer Kommentar) ermöglichen Sie mir meine Meinungsfindung unabhängig vom Mainstream zu gestalten. Die grossen Medienhäuser mit ihren Print- und Online-Veröffentlichungen fügen sich wie bei Fragen zu Mobilfun oder Corona-Pandemie dem Bundesrat und den entsprechenden politischen Parteien. Es gibt aber noch andere Arten der Meinungsbildung und damit auch der vorgehenden Wissensaneignung. Ich bedanke mich für Ihre Tätigkeit.

    Günter Schnell

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