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«Ich bedauere, dass Sie wegen mir eingesperrt sind»

Brief an alle Menschen unter 65 Jahren im Lockdown

 

Liebe Leserin, lieber Leser dieses Briefes

ich möchte Ihnen heute mittteilen, dass ich es ausserordentlich bedauere, dass Sie wegen mir eingesperrt sind. Ich gehöre zur Risikogruppe 65+ in deren Namen, zu deren Schutz, Sie alle gerade die verordneten Massnahmen des Bundes zu Covid19 in Kauf nehmen müssen. Es tut mir in der Seele weh, leere Kinderspielplätze zu sehen. Gesperrte Seepromenaden erinnern mich daran, wie gerne ich als Jugendliche dort war, um mich mit Freundinnen zu treffen und auch (wie süss die Erinnerung!) mit meinem ersten Freund. Das und ganz viel mehr dürfen Sie im Moment nicht, aus Rücksicht auf mich, zu meinem Schutz. Niemand hat mich gefragt ob ich das tatsächlich gewünscht habe, trotzdem wird, in meinem Namen und gegen meinen Willen, verordnet.

Keine Lebensqualität

Das Durchschnittsalter der mit (Achtung nicht an!) Covid19 verstobenen Menschen ist 81 Jahre. Fast meine gesamte Berufszeit habe ich mich mit Menschen dieser Alterskategorie befasst, hier liegt mein Erfahrungsschatz. Während der 14-jährigen Leitung eines Spitex-Dienstes habe ich wesentlich mehr alte, hilfsbedürftige Menschen betreut, die sich gewünscht haben, sterben zu können als andere, die unter allen Umständen am Leben bleiben wollten. Die Mehrheit unserer Betreuten litt darunter zu lange, sauber und satt, jedoch ohne Selbstbestimmung, ohne Lebensqualität leben zu müssen. Sie haben sich mehr Kontakt zu ihren Familienangehörigen gewünscht und sich darüber beklagt, dass sie ihre, schon verstorben, Bekannten und Freunde vermissen. Dieser Mangel an sozialen Kontakten wird mit den aktuellen Massnahmen in ein absolutes Extrem getrieben.

Tragische Unkenntnis des Menschseins

Den Menschen nur als Körper, als reine Materie, zu betrachten und folge dessen das ausschliessliche Augenmerk aufs Überleben dieses Körpers zu richten, zeugt von einer tragischen Unkenntnis des Menschseins. Die Medizin scheint nur zwischen einem lebenden und einem toten Körper zu unterscheiden und setzt alles daran diesen Körper möglichst lange am Leben zu erhalten. Sinn, Lebensqualität, Selbstbestimmung und Würde eines Menschen werden praktisch nicht mit einbezogen. Deshalb waren die Patientenverfügungen notwendend, deshalb gibt es Sterbehilfsorganisationen, um Menschen eine gewisse Selbstbestimmung über ihren Tod zu ermöglichen. Würde man Zahlen erheben wie viele Menschen auf diese Weise für einen von ihnen bestimmten Tod vorgesorgt haben, wäre es bestimmt nicht die Minderheit. In meiner 6-jährigen Leitung einer Fachstelle Alter und Gesundheit waren Patientenverfügungen ein dominantes Thema. Im Alterszentrum wo mein Büro war, habe ich Pflegeteams und Angehörige beraten, wie sie mit der Art des Todes ihrer Bezugspersonen z.B. durch Exit oder Sterbefasten umgehen können. Die alten Menschen, die sich für einen bestimmten Tod entschieden hatten, haben nie eine Beratung gewünscht, sie waren sich sicher.

Ohne Trost, ohne Zuspruch

Warum gibt es überhaupt Kirchen und die Religionen? Menschen haben spirituelle Bedürfnisse, weil sie neben dem Körper auch mit einem Geist ausgestattet sind. Traditionellerweise waren die Kirchen dafür zuständig sich dieses menschlichen Grundbedürfnisses anzunehmen. Durch die Massnahmen können sie ihre Aufgabe nicht mehr erfüllen. Gerade in Zeiten der Not war der religiöse Trost immer existentiell, genauso wie in der Stunde des Todes. Durch die Covid19 Massnahmen werden Menschen dazu gezwungen alleine zu sterben, ohne jeglichen Trost, ohne Zuspruch. Die trauernden Hinterbliebenen können sich nicht richtig verabschieden auch das Ritual, die Beerdigung, als wichtiges Element im Umgang mit dem Verlust, fällt unter dem Lockdown weg.

Der Tod gehört zum Leben

Wenn man Todeszahlen nennt und entschuldigend sagen muss, jeder Tod sei einer zu viel oder wenn durch absolut lebensfeindliche Massnahmen jeder Tod mit Gewalt verhindert wird, dann zeugt das von einer Unfähigkeit mit dem Leben umzugehen. Der Tod gehört zum Leben, ausserdem ist er ein kostbares Geschenk! Die Schweiz hat eine der höchsten Suizidraten. Bei jungen Männern ist Selbstmord die Todesursache Nummer 1. Es scheint so, als ob sich Menschen das Geschenk des Todes mit Gewalt holen, weil sie mit dem Leben nicht mehr zurechtkommen. Den Tod vermeiden zu wollen, heisst gegen das Leben zu arbeiten.

Wir dürfen Menschen gehen lassen

Genau das zeigen alle verordneten Massnahmen, unter denen die meisten Menschen gegenwärtig leiden. Sie sind gegen einen unumgänglichen, oft genug erlösenden, Tod jedoch noch wesentlich stärker gegen das Leben, gegen Ihr Leben, liebe Leserin und Leser, gerichtet. Das tut mir sehr leid und ich möchte Ihnen versichern, dass es nicht in meinem Sinne und nicht im Sinne der meisten Menschen ist, die ich in meiner 20-jährigen Arbeit für alte Menschen kennen gelernt habe. Wir dürfen Menschen gehen lassen, 81 Jahre auf dieser Erde ist länger als die Mehrheit der Menschen je zuvor hier verbracht hat. Ich spreche nicht für den Tod von alten Menschen, ich spreche für die Selbstbestimmung und Würde des Menschen bis zum Schluss, vor allem am Ende, wenn er sich nicht mehr für sich wehren kann. Die absolute Priorisierung einer Lebenserhaltung um jeden Preis entspricht nicht meinem Wunsch und auch nicht demjenigen der meisten älteren Menschen, denen ich in meiner langjährigen Arbeit begegnen durfte.

Hörhausen, 13. April 2020

6 Antworten

  1. Eine Gesellschaft nach Alter einzustufen ist Diskriminierung. Bei den 80en die gestorben sind, weiß man nicht ob sie an / oder mit corona gestorben sind. Altersheimebewohner einzusperren ist unmenschlich, denn man kann auch an einsamkeit sterben! Noch dazu gibt es viele alte Leute, die geistig wie körperlich fitter sind als jüngere!! Diese Gruppe als solche zu trennen ist Diskriminierung.

  2. Liebe Judith,

    ich zähle 80 Jahre, es bleibt mir also noch ein bisschen Zeit. Aber die Gedanken zum Tod sind schon sehr nahe. Dein Text berührt mich sehr. Ich deute ihn als Ode an die Freiheit,
    an die Eigenständigkeit und Selbstbestimmung.
    Hugo Morger hat mich auf einen Text von André Comte-Sponville aufmerksam gemacht mit dem Titel: „Laissez-nous mourir comme nous voulons!“
    Er bringt die Sache auf den Punkt.

    1. Die Würde des Menschen ist unabhängig vom Lebensalter unantastbar. Für mich ist die Würde auch unantastbar durch den eigenen Willen.Für mich müsste der Satz heissen: Lasst uns sterben wie und wann das Leben es will.

      1. Lieber Gary ich stimme dir zu, würde jedoch anstatt Leben den Begriff Seele oder Geist nehmen. Die Wissenschaften, mit der Medizin, haben sich von der Kirche, die ihren Stand als Inhaberin des einzig wahren Wissens mit Inquisition und Todesstrafen verteidigte, getrennt. Der Kompromiss war, dass sie sich vollkommen auf die Materie konzentrierten und der Kirche den Geist überlassen. Den Menschen als reine Materie zu betrachten ist komplett falsch. Materie macht 0,00001% dessen aus, was wir als Materie definieren, hat die Physik herausgefunden. Deshalb würde ich einen klar geistigen Begriff vorziehen, der unser Leben leitet.

    2. Danke dir Heinz, ja die Freiheit ist mir sehr wichtig, die habe ich auch immer in meiner Arbeit mit alten Menschen hochgehalten. Viele Kolleginnen stuften die Standards der Medizin höher ein und betrachteten diese als zum höheren Wohle des Menschen wie sein Wille, seine Freiheit. Nun die Medizin hat diesen Wert, auschliesslich dem Wohl des Menschen zu dienen schon ziemlich lange verloren, in meiner Wahrnehmung. Der Eid des Hyppokrates war gestern, er wird nicht mehr benutzt. Warum dürfen alte Menschen nicht so leben und sterben wie sie es möchten? Die Gesellschaft greift sehr stark ins letzte Stadion des Menschseins ein, ebenso wie ins erste. Geburt, Gesundheit und Bildung von Kindern werden staatlich gesteuert und überwacht. Sehr oft mehr zum Schaden als zum Nutzen.

  3. liebe judith, dich im rahmen der ip zu lesen hat mir viel freude gemacht. bin ganz mit dir, deinen gedanken und staune gleichzeitig, wie unterschiedlich dies alles erlebt wird. ich lerne daraus, dass jede/r ihre/seine perspektive „an den tag legt“ und wir ganz schön gefordert sind so verschiedenes erleben zu respektieren. danke für deine gedanken! nele

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