Die Menschheit steht vor der Wahl: Selbstzerstörung oder integral

Die Menschheit, mindestens die des abendländischen Kulturkreises, steht vor einer existenziellen Wahl. Entweder bleibt sie weiter auf dem durch die kapitalistische Moderne vorgezeichneten Weg der Selbstzerstörung, oder sie entscheidet sich für den kreativen und konstruktiven integralen Weg, ein Weg der persönlichen und sozialen Bewusstseinsentwicklung.

Das Menschenbild der kapitalistischen Moderne

Im Menschenbild der kapitalistischen Moderne sucht der Mensch seine Erfüllung durch das Haben, durch das Anreichern von materiellen Gütern, vor allem von Geld und der Anhäufung von Macht und egozentrischer Anerkennung. Als intelligenter und geisterfüllter, jedoch vergänglicher Körper, der er ist, sehnt er sich nach spirituellen Erfahrungen als Beweis seiner Unsterblichkeit.  Die abrahamitischen Religionen stellen dem Menschen dafür die Existenz einer unsterblichen Seele in Aussicht.

Für die Erfüllung seiner Wünsche und Bedürfnisse stehen ihm die drei Grundintelligenzen zur Verfügung: Als Erste der Instinkt, der für das sichere körperliche Überleben verantwortlich ist. Als Zweite die affektive oder emotionale Intelligenz, deren Impulse für ein das Individuum förderliches Sozialverhalten sorgt und als Dritte die Verstandes-intelligenz, die Ratio, deren Logik, Bewertungs- und Urteilsvermögen auch den ersten beiden Grundintelligenzen zur Verfügung steht. Die wohl kreativste Leistung der Ratio ist die Erfindung eines geistigen Operationszentrums, eines «Ich», das sich selbst als Lebenszentrum betrachtet und damit zu sich selbst die grösste Sorge trägt. Genau in dieser zwanghaften Selbstbezogenheit liegt der Kern der unheilvollen Selbstzerstörung, auf die die Menschheit mit offenem Visier und bei klarem Verstand zugeht.

Politisch drückt sich diese Egomanie zum Beispiel in der Zunahme des nationalistischen Populismus in ganz Europa aus, der modernen Variante der längst überwunden geglaubten Stammesgesellschaft. Vor 75 Jahren endete das erste diesbezügliche von deutschen Nationalsozialisten angeführte Experiment in einem unvorstellbaren Desaster mit Millionen von Toten.

Die auf dem Weg der kapitalistischen Moderne unvermeidbare Ich-Ausrichtung kann durch die Wahl eines integralen Entwicklungsweges relativiert und auf eine konstruktive Bahn gelenkt werden.

Das Menschenbild des integralen Menschen

Das Menschenbild des integralen Menschen geht davon aus, dass der Mensch in seinem Wesen Geist respektive Bewusstsein ist. Sein Körper und seine Psyche sind Manifestationen dieses Geistes, die menschliche Erfahrungen machen und sich dabei entwickeln und wachsen und bewusster werden. Der Mensch hat also einen Körper. Er ist nicht sein Körper. Er hat einen Instinkt. Er ist nicht sein Instinkt. Er hat Gefühle. Er ist nicht seine Gefühle. Er hat Gedanken. Er ist nicht seine Gedanken.

Sinn und Erfüllung des Lebens liegen im Wachstum der Bewusstheit und im zunehmenden Erkennen des umfassenden Zusammenhangs, des Urseins, des non-dualen Einen Geistes, der oder das ohne Anfang und ohne Ende ist. Dieses Eine hat viele Namen. In unserem Kulturkreis sprechen wir von Gott. Christus nannte es Vater: «Ich und mein Vater sind eins.»

Vom modernen zum integralen Leben

Dieses Menschenbild ist offensichtlich eine Umkehrung des Menschenbildes der kapitalistischen Moderne, was tiefgreifende Veränderungen im Leben des sich zum Integralen hin entwickelnden modernen Menschen zur Folge hat. Um diese Umkehrung zu leben sind in den vergangenen drei Jahrtausenden verschiedene Methoden entwickelt worden. Darauf soll hier jedoch nicht eingegangen werden. Eine der Möglichkeiten ist die Bewusstwerdung, Anerkennung und Aktivierung der vierten Intelligenz, die oft intuitiv-spirituelle Intelligenz, von der hermeneutischen Psychologie auch empathische Intelligenz genannt wird. Aus der spirituellen Literatur kennen wir die Bezeichnungen Achtsamkeit, Spiegelbewusstsein oder Zeugenbewusstsein, da diese Intelligenz alles, was erscheint, objektiv und ohne Wertung wahrnimmt und bezeugt. Die daraus resultierenden Impulse für Körper, Psyche und für die menschliche Gemeinschaft werden dem Menschen nur bewusst, wenn er sich dieser spirituellen Intelligenz in offener und bittender Haltung nähert. Diese arbeitet also rezeptiv, auf einen auf Empfang gestimmten Stimulus hin. Mit anderen Worten, sie lässt sich bitten. (Diese Eigenschaft nutzt die IP bei der Bestimmung von integralen politischen Positionen mit der sogenannten Integralisierungsmethode an. Politische Visionen oder integrale Zukunftsbilder werden von der spirituellen Intelligenz erbeten.) Ken Wilber empfiehlt «im Zeugen zu ruhen».

Dieses Zeugenbewusstsein ist Geist und damit nie Objekt. Es kann nicht gesehen werden. Es ist immer Subjekt. Es ist das was sieht, hört, spürt, wahrnimmt, z.B. das was jetzt gerade diese Zeilen liest. Es ist das, was der Mensch wesenhaft ist. Es hat Zugang zum Un- und Überbewussten. Seine Impulse sind immer konstruktiv und kreativ, lebensdienlich und wahr. Es ist Quelle von Mitgefühl und Liebe.

Der Übergang vom modernen zum integralen Menschen ist dann geglückt, wenn die Führung der Intelligenzen bewusst dieser spirituellen Intelligenz übertragen wird. Mit anderen Worten, wenn die Ereignisse des Lebens objektiv betrachtet und achtsam bezeugt werden und die dabei erhaltenen konstruktiven Impulse bei der Gestaltung des Lebens berücksichtigt werden. Der wertende und «Ich»-orientierte, hemmungslos urteilende Verstand übernimmt seine Funktionen erst nach der objektiven Wahrnehmung der Ereignisse durch die intuitiv-spirituelle Intelligenz. Der integrale Mensch sieht dann das kleine «Ich» als Objekt und relativiert damit dessen Wichtigkeit, ohne ihm seine Funktion als Operationszentrum abzusprechen. Der integrale Mensch gestaltet dadurch sein Leben weniger egozentrisch und mitfühlender.

Politisch wird sich eine integrale Gesellschaft entwickeln, deren Mitmenschen aus einer solidarischen, lebensdienlichen und dankbaren Haltung achtsam handeln.

Gary Zemp

9 Antworten

  1. …objektiv betrachtet, folge ich deinen Ausführungen voll umfänglich, subjektiv hingegen verspühre ich ein gewisses Unbehagen. Ich bin der Meinung, dass die subjektive Wahrnehmung über weit mehr Perspektiven verfügt als dies die eine “sogenannte Objektive” je darzustellen vermag. Optisches Gerät, audiografisches Gerät, Seismograf, Thermometer, Barometer, Windmesser, Telemeter usw. die Daten dieser Hilfsmittel liefern eine objektive (durch ein Objektiv gesehene) Darstellung eines Augenblicks, es fehlt die feinstoffliche und sinnliche Wahrnehmung über die der Mensch als Subjekt verfügt. Die Wahrnehmung des Menschen ist immer subjektiv, fliessend, veränderbar und nicht eingefrohren und festgelgt. Es wird Zeit, dass wir uns von der karthesianischen, mechanisierten Weltsicht verabschieden (Newton, Descartes). Das ist allerdings eine sehr anspruchsvolle, anstrengende Aufgabe weil die sbjektive Wahrnehmung der Menschen unterschiedlich ist. Das heisst, unsere Wahrnehmung ist immer different, komplex und vielschichtig. Desshalb bin ich der Meinung, dass es von grosser und weitreichender Bedeutung sein könnte wenn wir, die Mitglieder der IP, mit der Akzeptanz der intersubjektiven Differenz arbeiten würden. Es könnte uns ermöglichen von unserer dualistischen Prägung Abstand zu gewinnen.
    Das Buch “Integrale Lebenspraxis” bietet da eine Orientierungshilfe an, erschienen im Köselverlag, die Autoren sind Ken Wilber, Terry Patten, Adam Leonard und Marco Morelli. Ebenfalls hilfreich “Angst, vor ihr müssen wir uns fürchten” von Janette Fischer, erschienen im Verlag Stroemfeld/Nexus.

    1. Danke, Heinz, für Deinen tiefgründigen Kommentar. Meiner Erfahrung nach nimmt das Zeugenbewusstsein alle Ereignisse des Lebens von Augenblick zu Augenblick als Objekte nicht wertend wahr. In diesem Sinn das Wort objektiv zu gebrauchen war tatsächlich missverständlich. Ganz sicher war damit nicht eine Einschränkung auf die Perspektive der sogenannten Objektive gemeint.

    2. Ja, Subjektivität finde ich auch sehr wichtig, denn eigentlich ist ja eh alles nur eine Wahrnehmung, die dann von meinem Subjekt beschrieben wird. Genau genommen gibt es deshalb auch keine Objekte, sondern nur Subjekte.
      Ich bin erst neu auf die IP gestossen, macht ihr auch politische Vorstösse, um diese Einsichten gesetzlich einzubinden?

      1. lieber Freund KW, im Stadium des Wunschtraumes ist das eine reale Utopie, würde sie Wirklichkeit hätte ich Tränen der Freude in den Augen. Die subjektive Schönheit deiner Idee sehe ich aber darin, dass ein erweitertes Gewahrsein einer kleiner Mehrheit der Bevölkerung, am besten Global natürlich, eine solche Massnahme nicht mehr nötig wäre. Mich meiner patriarchalen Prägung bewusst zu werden, ist wahre Knochenarbeit und ich denke dass Andere, sei es Mann oder Frau die dasselbe tun, mir beipflichten werden.

  2. Lieber Gary,
    ich kann dich und deine spürbare Verzweiflung nur zu gut verstehen, das ohnmächtige Gefühl zusehen zu müssen, dass die Menschheit nicht endlich soweit ist, die unheilvolle Entwicklung der letzten zwei Jahrhunderte zu beenden. Das hängt auch damit zusammen, dass sowohl du wie ich uns je länger je mehr die Frage stellen müssen, ob wir den Umschwung noch erleben werden.
    Und dennoch ist beim lesen deines Beitrages ein ungutes Gefühl aufgekommen. Das harte entweder-oder im Titel – Selbstzerstörung oder integral – ist nicht das, was ich erlebe. Ich habe in den letzten paar Jahren immer wieder Gelegenheiten gehabt – oder sie mir gesucht – zu erleben, wie an unglaublich vielen Orten und besonders durch jüngere Menschen der Generationen Y und Z der Wandel in ganz vielen Bereichen des Lebens vorangetrieben wird. Darüber berichten die Mainstream-Medien natürlich nicht, ausser seit kurzem über die Klima-Bewegung. Diese jungen Menschen haben sicher nicht Wilber oder Gebser gelesen und sie kennen die Entwicklungsstufen des menschlichen Bewusstseins nicht. Doch sie leben aus ihrem Innern heraus in einem andern Bewusstsein, einem ganz anderen als wir es in dieser Lebensphase hatten. Das gibt mir die Hoffnung, dass der Menschheit doch noch eine sanfte Landung gelingen könnte, ein Wandel ohne Katastrophe. Das heisst, dass alte, überholte Systeme zusammenbrechen werden, es wird dabei Trümmer geben, doch keinen Weltuntergang, denn das Neue ist schon an anderen Stellen im Entstehen und nimmt den Platz des Alten ein. Das ist eine Hoffnung, keine Gewissheit, denn wissen, wie die Zukunft sein wird, kann niemand. Ich erinnere mich an das Positionspapier „Integrale Gesellschaft“, die Geschichte, die ich geschrieben hatte über einen jungen Mann, der im Jahre 2050 etwa 20 jährig ist. Zu dieser Geschichte habe ich immer gesagt, das einzig sichere darin ist, dass es nicht genau so sein wird.
    Und es gibt einen weiteren Punkt in deinem Blog, zu dem ich etwas hinzufügen möchte. Im Modell der Bewusstseinsentwicklung geht es um den Menschen. Aus meiner Sicht geht es heute darum, den Blick zu erweitern und die Erde mit ihrer ganzen Vielfalt von Leben einzubeziehen. Das Positionspapier der IP zur Klima-, Energie- und Ressourcenpoltik, bei dem ich federführend mitgewirkt hatte, hat das Leitmotiv „Ich bin ein Teil der Erde und die Erde ein Teil von mir“, ein Satz der nach meiner Erinnerung von dir eingebracht wurde und den ich damals kaum in seiner vollen Bedeutung begriffen hatte. Ich habe das Positionspapier – das jetzt zum Glück wieder online ist – kürzlich nochmals gelesen und finde es aktueller denn je, auch 10 Jahre nach seiner Entstehung.
    So möge jede und jeder an seiner Stelle den Wandel unterstützen.
    Herzlich
    Pierre

    1. Lieber Pierre, wenn ich solche Texte lese, dann öffnet sich mein Herz und ich kann wieder atmen.
      Ich bin 79 Jahre alt und werde wohl akzeptieren müssen den besagten Umschwung nicht mehr selbst erleben zu dürfen. Aber an dieser Vision mitzuwirken und das Wenig das ich kann beizutragen ist eine Möglichkeit meinem Wunsch näher zu kommen, dem Wunsch mit einem lächeln zu sterben.

      1. Lieber Heinz, danke für deine herzerwärmenden Worte. Dein Wunsch ist auch mein Wunsch, für dich und für uns alle. Herzlich Pierre

  3. Liebe Mitmenschen,
    Eure Besorgnis um unser qualitatives Weiterleben teile ich.
    Meine Erfahrungen mit der gewaltfreien empathischen Kommunikation nach Marshall Rosenberg sind äusserst positiv und ermöglichen eine tiefgreifende friedliche Bereicherung der Lebensqualität der lebenden Individuen, wie auch der langfristigen Lösung globaler Probleme.
    Das Herz gesellschaftlicher Veränderung von M. ROSENBERG
    empfehle ich jedem Mitmenschen wärmstens 😊

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