Feindbilder sind Kriegstreiber

Anschuldigungen, Drohungen, Provokationen machen uns regelmässig bewusst, dass die Grossmächte immer noch nicht bereit sind, ihre Feindschaft aufzugeben und Probleme im Dialog zu lösen. Doch – tragen wir mit unsern Feindbildern nicht auch dazu bei? Und wie kann eine integral ausgerichtete Einstellung hier hilfreich sein?

Seit ziemlich genau hundert Jahren pflegen wir im Westen Feindbilder gegen den Kommunismus und die kommunistisch regierten Länder. „Die gelbe Gefahr“ wird China genannt. Russland gilt als besonders gefährlicher Feind. Auch Nordkorea, Kuba, Venezuela gehören zur „Achse des Bösen“. Inzwischen werden auch die islamisch regierten Länder, allen voran Iran, mit Feindbildern eingedeckt. Kritik an diesen Ländern mag berechtigt sein. Aber sie kommt meinst undifferenziert, einäugig und deshalb gefährlich daher.

Feindbilder gehören seit eh und je zum Instrument kriegsführender Staaten. Länder werden als Bedrohung dargestellt, ihre Staatsoberhäupter dämonisiert. Angst vor dem Fremden wird für diese Zwecke instrumentalisiert. Und so sickern die Feindbilder, ohne dass wir es merken, in uns ein und schaffen ein Klima des Misstrauens, der Feindseligkeit und führen in letzter Konsequenz zu militärischer Aufrüstung und Krieg.

Feindbilder widersprechen einer integralen Weltsicht

Wenn in meiner psychotherapeutischen Praxis jemand an seinen Eheproblemen arbeiten wollte, wünschte ich immer, auch den Ehepartner, die Ehepartnerin einzubeziehen, um die Situation aus der Sicht beider zu beleuchten. Und ich staunte oft, wie das Ganze wieder völlig anders aussah. Nicht weil ich falsch informiert worden wäre. Aber naturgemäss berichtete er oder sie aus der eigenen Perspektive.

Wer integral denkt, sucht alle Perspektiven in sein Denken einzubeziehen. Dazu gehören auch jene der sogenannten Feinde. Ich höre in den Medien von den Machtansprüchen Chinas, von den manipulierten Wahlen Russlands, von der atomaren Bedrohung Nord-Koreas, von der Aggression Irans. Mag alles stimmen, aber um es beurteilen zu können, müsste ich auch deren eigene Sicht kennen lernen, um die Situation wirklich zu verstehen.

Einseitige Medien

Unsere Medien mühen sich meist um Ausgewogenheit in der Berichterstattung zur Schweizer Politik. Leider tun sie das nicht in der Berichterstattung über kommunistisch oder islamistisch regierte Länder. Wir lesen oder hören kaum einmal eine Gegendarstellung aus der Sicht der Betroffenen. Dabei glaube ich nicht, dass die Medien uns täuschen oder manipulieren wollen. Doch Redaktorinnen und Redaktoren haben immer weniger Zeit. Sie reicht meist nicht, um die Hintergründe zu studieren. Die Medien sind auf die Quellen angewiesen, die ihnen geliefert werden, und diese sind fast ausschliesslich westlich geprägt. Häufig fehlen auch historische Zusammenhänge und Hinweise auf die kulturelle Eigenart des betreffenden Volkes, die zur Einschätzung der Situation unumgänglich wären.

Feindbilder gehen in Fleisch und Blut über

Wenn ich in Gesellschaft solche Gedanken äussere, begegne ich meist Skepsis oder Ablehnung. Ich erzähle, Putin habe der EU Friedensgespräche vorgeschlagen. Die Reaktion: Das meint er wohl nicht ernst. China liefere Impfstoffe nach Afrika. Macht China doch, um sich dort einzunisten. Maduro habe einen freundlichen Brief an die US-Bürger geschrieben. Ist sicher ein Propagandazug. Wohlverstanden: Ich will hier nicht entscheiden, ob das Misstrauen berechtigt ist oder nicht. Was mich beunruhigt, ist, dass alles, was diese Länder betrifft, gleich in die Schublade des Verdächtigen oder Feindseligen eingeordnet wird. Fakten werden kaum geprüft – man weiss es ja! Und so wirken wir mit an einem Klima des Misstrauens und der Feindschaft. Unrecht bleibt Unrecht, wir sollen es anprangern. Aber auch grundsätzliche Abneigung ist Unrecht.

Was könnten wir tun?

Statt Feindbilder in uns einnisten zu lassen, tun wir besser daran, die integrale Denkweise auch in politischen Dingen einzuüben. Lesen wir Informationen mit zwei Augen. Mit dem einen nehmen wir auf, was uns mitgeteilt wird. Mit dem andern schauen wir aus nach der Sicht der Andern. Wie könnte die Nachricht aus ihrer Sicht aussehen? Spricht aus der medialen Darstellung eine leicht zu überhörende Voreingenommenheit?

Ich orientiere mich möglichst an verschiedenen Quellen. Ich überprüfe mich selber auf unbewusste Vorurteile. Ich halte Abstand von allem Rechts-Links-Gezänk. Ich habe keine Angst, dazu zu stehen, dass ich vieles nicht weiss. Und ich versuche mich zu gedulden beim Gedanken, dass integrales Denken sich vor allem in der Politik noch nicht so weit entwickelt hat.

9 Antworten

  1. Herzlichen Dank für diese Inspiration.
    Ich finde es ebenfalls immer wieder anspruchsvoll, eine allparteiliche Sicht zu vertreten – gerade in politischen Situationen.

    Die polarisierende Position scheint so kraftvoll und moralisch überlegen. Sie fühlt sich auch oft sehr allwissend an. Es ist aus meiner Sicht eine grosse Kunst, eine integrierende Perspektive einzubringen und die vorher feurige Diskussion nicht abzuwürgen.

    Ebenso oft finde ich die Entscheidung schwierig, wann ich eine offene und tolerante Sicht einnehmen sollte und wann ich aufgrund von klaren Grenzüberschreitungen eine harte Position “bis hier und nicht weiter” einnehmen sollte. Die Ära Trump hat ja sehr eindrucksvoll gezeigt, wie schwer es ist, einem schrittweisen und teils schleichenden Angriff auf moralische Standards entgegenzutreten.

    Wahrscheinlich hilft hier nur, kontinuierlich dranzubleiben und zu üben.
    Oder gibt es weitere gute Rezepte für eine resiliente integrale Perspektive?

    1. Danke, lieber Herr Berg. Ich glaube, Sie haben mein Anliegen gut verstanden. Rezepte? Der Versuchung, mit den andern mitzuheulen, widerstehen. Über Behauptungen hinaus weiterschauen. Und, wie Sie sagen, dranbleiben.

  2. Danke, lieber Werner
    für deine Gedanken. Ich habe grade kürzlich nach “Friedensförderung” gegoogelt, um mich inspirieren zu lassen, wie ich mich da engagieren könnte. Es kamen fast nur militärische oder “aussenpolitische” Hinweise. Etwa so, wie wenn man nach Gesundheit sucht aber vor allem Hinweise findet zu Krankheiten und dem sog. Gesundheitssystem, das zu 97.7% (gem. BfS) ebenfalls ein Krankheitssystem ist. Deinen Hinweis zu “was können wir tun” sehe ich als genuin friedensförderlich – und beherzige ihn gerne.

    1. Lieber Alfred
      Danke für deinen wertvollen Kommentar. Für mich gehört beides zu Friedensförderung: den Frieden im eigenen Bewusstsein finden und ihn in die Umgebung hinaustragen. Wie oft im integralen Feld: sowohl als auch.

  3. Das Herz gesellschaftlicher Veränderung von Marshall Rosenberg ist eine wesentliche Möglichkeit einer lebensbejahenden friedvollen und für jedermann praktikablen Lösung unserer Probleme, basierend auf die Gefühle und Bedürfnisse wahrnehmender gewaltfreier empathischer Kommunikation.

    1. Lieber Ernst
      Du hast in Kommentaren zu mehreren Artikeln von mir reagiert und dafür Anerkennung ausgesprochen. Ich danke dir dafür. Jedesmal hast du die Gelegenheit benutzt, um auf die Methode von Marshall Rosenberg aufmerksam zu machen. Ich kenne und anerkenne die Methode. Sie hat sicher zur Klärung von Tausenden von Konflikten geholfen. Für mich persönlich geht sie etwas stark von Bedürfnissen aus. Ich löse Konflikte lieber anhand von übergeordneten, gemeinsamen Zielen, die mir wichtiger erscheinen als meine Bedürfnisse. Doch ist wohl beides hilfreich – nutzen wir sie!.

  4. Auch von mir herzlichen Dank für deine Zeilen. Solange die Feindbilder weit entfernte Völker betrafen, waren sie zum Glück nur eher kleine Kriegstreiber. Ich nehme im Moment aber wahr, dass dazu übergegangen wurde, Feindbilder hier, mitten in unserer Gesellschaft zu installieren. So wurden Ungeimpfte plötzlich zu unsolidarischen, minderwertigen Menschen und Masken- oder Massnahmenkritiker zu gefährliche Extremisten.
    Du schreibst, dass du immer gerne auch die Sicht der anderen gehört hast, wie dies ja eigentlich im Integralen selbstverständlich ist. Aber jetzt wird genau dies von den grossen Medien mit allen Mitteln zu verhindern versucht. Andere Sichtweisen sind plötzlich zu gefährlichen Falschmeldungen geworden.
    Wenn aber mit Wahr und Falsch jegliche Meinungs-Vielfalt verhindert wird, ist der Krieg plötzlich sehr nahe. Der Schritt, aus polarisierenden Position neu scharf ausgrenzende, absolute Positionen und daraus Vorschriften zu machen, ist für mich kriegstreibend.
    Kann da das Integrale überhaupt noch Partei sein, oder ist es bald nur noch ein Heilmittel, gut aber weit, weit ausserhalb der Politik?

    1. Lieber Werner, Ich stimme dir zu, wenn du das Thema “Feindbilder” auf weitere, aktuelle Bereiche wie Impfung und Maskentragen ausweitest. Mir scheint, es geht eine wachsende Spaltung durch unsere Gesellschaft, die sich in mehreren Bereichen zeigt und oft auf gehässige Art austobt. Die eigene Position klar aussagen und dabei die Gegenposition anhören und achten, das muss für uns das Ziel einer integral ausgerichteten Kommunikation sein.

  5. Artikel und auch die Diskussion zeugen meiner Ansicht nach von viel gutem Willen, genutztem Verstand, Menschlichkeit und Herz. Vielen Dank dafür.
    Ich möchte einen kleinen Hinweis machen, weil es etwas ist, das mir öfter auffällt: Jemand hat kommentiert: “Ich habe grade kürzlich nach „Friedensförderung“ gegoogelt, um mich inspirieren zu lassen, wie ich mich da engagieren könnte. Es kamen fast nur militärische oder „aussenpolitische“ Hinweise.”
    Diese Aussage sagt mir zuerst: auch im digitalen Raum gilt es Verantwortung übernehmen. Dazu gehört zu wissen, das Google quasi ein Monopol innehat (wovon schon das Wort googeln zeugt) was bekanntlich nichts gutes ist. Mehr dazu hier: https://digitalcourage.de/digitale-selbstverteidigung/es-geht-auch-ohne-google-alternative-suchmaschinen

    Und dann sagt es mir leider auch noch, dass wir wohl noch einen langen Weg vor uns haben und es vermutlich besser wäre, weniger Zeit im Internet zu verbringen und dafür mehr positive Tatsachen in die Welt zu stellen.
    Also geh ich jetzt backen 🙂

Kommentare sind geschlossen.

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